Auf der Veggie-Parade 2013 warb eine bunt gemischte Menschenmenge für Solidarität mit unseren nichtmenschlichen Erdmitbewohnern, Berlin-Vegan berichtete. Ebenfalls anwesend bei der Veranstaltung waren mehrere Pressereporter, die sichtlich beeindruckt und angetan das Geschehen verfolgten. Inwiefern eine gut gemeinte Berichterstattung dennoch daneben zielen kann, selbst wenn eigentlich eine wohlwollende Darstellung der veganen Bewegung angestrebt wird, zeigte ein Artikel des Berliner Kuriers vom 21. Juli 2013.

Unter der Überschrift „Die Parade der tanzenden Kühe“ fand sich zunächst eine durchaus positive Schilderung des Umzugs, die jedoch mit dem Absatz endete: „Tatsächlich sind die Fleisch-Verweigerer im Aufwind: Schon sechs Millionen Deutsche essen laut Vegetarierbund kein Fleisch mehr. Aber eine KURIER-Umfrage zeigt: Manchmal sehnen sie sich doch nach duftender Bratwurst & Co.“

Als Beleg wurden Statements von Teilnehmenden der Parade herangezogen, die diese Quintessenz untermauern sollten. So etwa von Alexandra (20): „Am ehesten vermisse ich Räucherkäse.“ Oder von Katrin (26): „Früher biss ich gern in ein Fischbrötchen an der Ostsee. Aber die Tiere sind mir wichtiger.“

Diese Form der Zitation löste bei Katrin allerdings Ablehnung aus. In einer E-Mail an den verantwortlichen Journalisten erklärte sie: „Ich wurde in meinem Interview gefragt, was ich vermisse – darauf erwiderte ich, dass es nichts zu vermissen gäbe. Daraufhin wurde die Frage umformuliert zu ‚Was hast du früher gern gegessen?‘ Diese Frage beantwortete ich. Als der Reporter später dieses wiederholte im Zusammenhang mit ‚vermissen‘, habe ich nochmals explizit darauf hingewiesen, dass dieser Ausdruck falsch sei. Nun lese ich im Artikel ‚Manchmal sehnen sie sich doch nach …‘ Das ist schlichtweg eine falsche Aussage, die ich so nie getroffen habe und wohl eher der Auffassung des ‚Journalisten‘ entspricht.“ Ganz ähnlich kritisierte Alexandra: „‚Käseverzicht ist nicht so einfach‘. So ein Blödsinn. Er hat gefragt, was man am ehesten vermisst. Ja, am ehesten Räucherkäse, das heißt aber nicht, dass Käseverzicht schwer ist.“

Wo bestand hier das kommunikative Missverständnis? Wir haben diesbezüglich eine Stellungnahme an den verantwortlichen Journalisten gerichtet:

Sehr geehrter Herr Wilms,

offenbar liegt hier ein prinzipielles Missverständnis vor in der Grundauffassung, wie Sie über uns als vegane Bewegung – sicher mit den besten Absichten und auch wohlwollend – berichten wollten. Wir möchten zur Verdeutlichung etwas ausholen.

In der Geschichte der Menschheit zeichneten sich immer wieder folgende Systeme ab: Eine Gruppe von Menschen erhebt sich über eine andere Gruppe und spricht diesen ihr Recht ab bezüglich eines selbstbestimmten Lebens in Freiheit und des Empfindens gleichwertiger Emotionen.

Unterdrückungssysteme, die auf gesellschaftlichen Glaubenssystemen sowie der Ausübung physischer Gewalt basierten, waren etwa die Sklaverei oder der Sexismus. Es war vor wenigen hundert Jahren in den USA noch vollkommen normal, Sklav_innen auszupeitschen oder anderweitig zu bestrafen, wenn sie nicht gehorsam waren. Ebenso wie es dem gesellschaftlichen Konsens entsprach, Frauen zu züchtigen, die ihre Stimme gegen ihren Ehemann erhoben. Entlaufene Sklav_innen wurden als psychisch krank diagnostiziert, ebenso wie sich auflehnende Frauen als hysterisch abgestempelt wurden. Nur weil sie sich einem System nicht fügen wollten, das auf Diskriminierung und Unterdrückung basierte. Was hat das mit der veganen Bewegung zu tun?

Veganer_innen sind der Überzeugung, dass sich ein ganz ähnliches System der Unterdrückung immer noch in unserer Gesellschaft vollzieht: Die Gefangenschaft, Ausbeutung, Folter und Tötung von empfindungsfähigen Lebewesen, die ebenso wie wir in der Lage sind, Emotionen wie Angst, Panik, Einsamkeit und Schmerz zu erfahren. Wenn Sie sich einen Einblick in die Lebensbedingungen der Tiere in der Massentierhaltung machen wollen, empfehle ich Ihnen den Film Earthlings oder das Buch „Kein Fleisch macht glücklich“ von Andreas Grabolle. Die vegane Bewegung hat diesbezüglich den Begriff des Speziezismus eingeführt: Die hierarchische Diskriminierung sowie psychische und physische Gewaltausübung gegenüber Lebewesen, nur weil sie einer anderen Spezies angehören als wir.

Ferkel werden ohne Betäubung kastriert, Hühnern ohne Betäubung der Schnabel kupiert, Kälbern ohne Betäubung die Hörner ausgebrannt. Ganz legal. Vorgeblich um die Tiere vor sich selber zu schützen. Weil sie zusammengepfercht aggressive und verletzende Verhaltensweisen entwickeln, die sie in einer natürlichen Lebensumgebung niemals aufweisen würden. Der Wert des Lebens der Tiere bemisst sich einzig und allein nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit: Betäubungen für das Kastrieren, Kupieren und Ausbrennen wären durchaus möglich. Aber das wäre mit Kosten verbunden.

Die Körper von Milchkühen, Schweinen und Hühnern werden auf maximale Effizienz getrimmt, sodass nicht selten ihre Knochen brechen, weil sie dem immensen Gewicht der Körper nicht mehr gewachsen sind. Tiere in der massenindustriellen Nutzung erreichen nur einen Bruchteil der Lebenserwartung, die sie normalerweise zu erwarten hätten. Männliche Küken landen schon am Tag ihrer Geburt im Häcksler, sie geben ja keine Eier. Und weil Milchkühe wie alle Säugetiere trächtig gehalten werden müssen, damit sie Milch geben, werden die alljährlich geborenen Kälber ihren Müttern kurz nach der Geburt entrissen und daraufhin nur allzuoft als Abfallprodukte behandelt.

Veganer_innen haben die bewusste Entscheidung getroffen, dieses lebensverachtende System nicht weiter als Konsumenten zu unterstützen. Und darüber hinaus engagieren sie sich auch häufig als Tierrechtsaktivist_innen, um sich für eine möglichst zeitnahe Beendigung dieses Leidens stark zu machen.

Sehr geehrter Herr Wilms, Sie hatten nun offenbar schon zu Beginn die Artikelidee: Was vermissen Veganer_innen und Vegetarier_innen denn am meisten aus früheren Fleischesser-Zeiten? Was ja aus Ihrer Perspektive auch ein naheliegendes und logisches Konzept darstellt. Doch dabei handelt es sich um einen falschen Denkansatz: Sie würden ja auch einen Sklavenbesitzer_innen, der nach eingehender Reflektion zu der Überzeugung gelangt ist, dass er seine Sklav_innen nicht mehr auspeitschen und bestrafen möchte, sondern sie vielmehr als freie Menschen entlassen will, nicht fragen: „Was vermissen Sie denn am meisten im Gegensatz zu früher?“ Was sollte er antworten? „Naja, ich muss jetzt meinen Arbeiter_innen mehr Geld und Sozialabgaben bezahlen?“ Oder: „Wenn meine Arbeiter_innen nicht mehr schnell genug sind, kann ich sie nicht mehr mit der Peitsche antreiben?“ Nein, das würde er nicht sagen. Ebensowenig wie der Ehemann, der seine Frau früher gelegentlich prügelte, wenn sie sich seinem Willen entgegenstellte und der dann zur Überzeugung gelangte, dass sie über ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verfügt, entgegnen würde: „Ich vermisse es, sie zu maßregeln, wenn sie wieder mit ihren eigenen Wünschen anfängt!“ Oder: „Ich vermisse es, dass ich das ganze Dorf hinter mir wusste, wenn ich sie mal wieder in ihre Schranken weisen musste!“

Sowohl der ehemalige Sklavenbesitzer wie auch der ehemalige prügelnde Ehemann würden vielmehr entgegnen: „Ich habe früher nach einem Glaubenssystem gehandelt, dass ich überhaupt nicht in Frage gestellt habe. Heute bin ich bestürzt darüber, welche Gewalt ich meinen Mitmenschen angetan habe und würde viel darum geben, diese Gewalt rückgängig machen zu können. Da mir dies aber nicht möglich ist, möchte ich mein Bestes geben, andere Menschen aufzuklären und ihnen mein Wissen weiterzugeben!“

Ebenso würden es auch die meisten Veganer_innen formulieren: „Ich vermisse keine tierischen Lebensmittel, die ich früher gegessen habe. Ich vermisse die mangelnde Aufgeklärtheit der Menschen in unserer Bevölkerung über die Lebensbedingungen der Tiere in der Massenindustrie. Ich vermisse die mangelnde Empathie und Reflektion der vielen Millionen Deutschen, die ihre Steaks, Schnitzel, Döner, Currywürste und Salamipizzen essen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie sehr das dahinterstehende System auf Leid basiert. Ich vermisse politische Entscheidungsträger, die sich deutlich und vehement gegen diese noch heute praktizierte Form der Gewaltausübung gegen empfindungsfähige Lebewesen aussprechen.“

Sehr geehrter Herr Wilms, wir denken wirklich, dass Sie mit ihrem Artikel keine bösen Absichten verfolgt haben! Aber den einzigen Verzicht, den wir als Veganer_innen bewusst für uns entschieden haben, ist der Verzicht auf Gewaltausübung gegenüber empfindungsfähigen Lebewesen.

Mit den besten Grüßen.