[teaser]Berlin-Vegan war bei der Verleihung des Forschungspreises für tierversuchsfreie Methoden – und hinterfragt, was (fast) alle anderen Teilnehmer_innen als gegeben hinnahmen.[/teaser]

Tierschutz in der Hauptstadt der Tierrechte

Am 9. August verlieh Senator Thomas Heilmann den „2. Forschungspreis des Landes Berlin zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden für Tierversuche sowohl in der wissenschaftlichen Forschung als auch in der Lehre“ an Prof. Dr. Günther Weindl von der Freien Universität Berlin. Zugleich überreichte Brigitte Jenner vom Bündnis Tierschutzpolitik Berlin ihm einen Zusatzpreis für seine Forschung. Hierzu lud das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) ins Rote Rathaus, und nicht nur zahlreiche Vertreter_innen der Universitäten, der Pharmaforschung und des Senats, sondern auch etliche Vertreter_innen des Bündnisses Tierschutzpolitik Berlin, einer Kooperation des Tierschutzvereins und der Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg e.V., und wir von Berlin-Vegan waren dabei.

Das Thema ist umso dringender, als in Berlin, der „Hauptstadt der Tierversuche“, nicht nur die Zahl der Tierversuche insgesamt erneut gestiegen ist – von 2011 bis 2012 um 60.902 auf 436.163 Wirbeltiere (16 %) – (während etwa in der Schweiz die Zahlen rückläufig sind), sondern vor allem, weil derzeit mit dem geplanten Neubau des Max-Delbrück-Centrum (MDC) ein neues riesiges Tierversuchslabor entstehen soll, obwohl im MDC bereits jetzt über 100.000 Versuchstiere gehalten werden – oft unter Umständen, die mehr als kritische Fragen nach sich zogen und die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz auf den Plan riefen, die mehr als 24 gravierende Verstöße gegen die Genehmigungskriterien feststellte – zum Leid der Versuchstiere. Die Genehmigungsbehörde, die alle genehmigungspflichtigen Tierversuche in Berlin genehmigen muss und die Einhaltung der Vorschriften zu überwachen hat, ist das LAGeSo, das auch die Preisverleihung für tierversuchsfreie Forschung ausrichtete.

Allein der Neubau des MDC soll 24 Millionen Euro kosten. Noch weit höhere Summen wurden für neue Tierversuchslabore in anderen Städten Deutschlands ausgegeben, während für tierversuchsfreie Forschung jährlich nur etwa 4 bis 5 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Diese Zahlen belegen, welch ungewöhnliche Bedeutung die Verleihung dieses Preises für tierversuchsfreie Forschung besitzt – und die Preisverleihung bewies auch, welche naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen, ethischen und politischen Dimensionen die Suche nach der tierleidfreien Forschung berührt. Der diesjährige Preisträger, Prof. Dr. Weindl, erforscht am Institut für Pharmazie der FU, wie bei der Erforschung von Kontaktallergien Versuchstiere durch im Reagenzglas erzeugte Modelle von menschlicher Haut ersetzt werden können. Anlässlich der Preisverleihung gab es außer zwei Vorträgen des diesjährigen Preisträgers und eines Vertreters des vormaligen Ansprachen u. a. des Landestierschutzbeauftragten, eines Vertreters der Pharmaindustrie, die den Preis finanzierte, und verschiedener Einrichtungen des Landes Berlin, moderiert von Dr. Heidemarie Ratsch, Leiterin der Fachgruppe für die Genehmigung und Überwachung von Tierversuchen und Präsidentin der Tierärztekammer Berlin.

„Ein bisschen mehr tun“ für Alternativen im Tierversuch – reicht das wirklich?

Als erster Redner forderte der Präsident des LAGeSo Franz Allert, wir müssten „ein bisschen mehr tun“ für Alternativen zu Tierversuchen in der medizinischen Forschung. Er lobte Berlin als Zentrum für Medizin und Forschung, auf das man stolz sein könne. Hierzu gehöre auch Grundlagenforschung und zur Grundlagenforschung gehören Tierversuche. Um sie möglichst gering zu halten, habe der Senat von Berlin diesen Preis gestiftet, haben die forschenden Pharmaunternehmen die Finanzierung des Preises übernommen, die auch ein im Zweijahresrhythmus stattzufindendes Symposium auszurichten beabsichtigten. Einen ähnlichen Preis verleiht übrigens auch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz jährlich seit 2008 (zuvor seit 1980 das Bundesgesundheitsministerium) sowie auf gesamteuropäischer Ebene die Wissenschaftsplattform EPAA (The European Partnership for Alternative Approaches to Animal Testing), die zusätzlich seit 2005 jährliche Tagungen zum Thema abhält – der Preis ist also keine innovative Erfindung des Landes Berlin.

Eröffnungsrede durch Franz Allert, Päsident des Landesamtes für Gesundheit und Soziales

Eröffnungsrede durch Franz Allert, Päsident des Landesamtes für Gesundheit und Soziales

Der Landestierschutzbeauftragte Prof. Dr. Horst Spielmann erläuterte die rechtlichen Rahmenbedingungen von Tierversuchen. So existiert zwar im europäischen Rechtsraum kein gemeinsames Tierschutzgesetz, allerdings gibt es die 2010 in Kraft getretene europäische Versuchstierrichtlinie (2010/63/EU), die das 3R-Prinzip (replacement, reduction, refinement) in Gesetzesrang erhob. (Das 3R-Prinzip wurde bereits 1956 von William Russell und Rex Burch definiert, aber erst in den letzten Jahren als Forschungsziel erkoren.) Auch Horizon 2020, das neue Rahmenprogramm für Forschung und Innovation der EU, wird diese Forschungsrichtung weiter vorantreiben. In der Forschung werden am häufigsten Versuche an transgenen Mäusen genehmigt und durchgeführt, die Prof. Spielmann auch aus wissenschaftlicher Perspektive kritisch sieht; nicht umsonst, so Spielmann, wurde der vorige Preis wie der diesjährige für die Entwicklung von Modellen menschlicher Zellen vergeben. Prof. Spielmann kritisierte abschließend, dass der Senat von Berlin den Preis für tierversuchsfreie Forschung ebenso wie auch eine Professur für die Entwicklung von Tierversuchsalternativen zwar stiftet, ihn aber nicht bezahlt; die Professur wird vom Bund (mit-)finanziert, der Forschungspreis vom Verband der forschenden Pharmaunternehmen.

Landestierschutzbeauftragter Prof. Dr. Horst Spielmann

Landestierschutzbeauftragter Prof. Dr. Horst Spielmann

Als nächster Redner beteuerte Dr. Siegfried Thom vom Verband der forschenden Pharmaunternehmen die Unverzichtbarkeit von Tierversuchen. Von ca. 30.000 bekannten Krankheiten seien bisher nur rund 10.000 behandelbar. Tierversuche kämen in der Forschung dabei stets an letzter Stelle; man sei sich bewusst, dass Tiere keine Gegenstände seien und nicht ohne vernünftigen Grund verletzt werden dürfen. Darum vermeide man Doppel- und Wiederholungsversuche, habe die LD50-Versuche (die vorschriftsgemäß zum Tod mindestens der Hälfte der Versuchstiere führen) modifiziert; Alternativen zu Tierversuchen werden gebraucht und geschätzt – der nun zum zweiten Mal verliehene Preis soll sie voranbringen.

Die Vizepräsidentin der FU, Prof. Dr. Monika Schäfer-Körting, erläuterte in ihrer Laudatio auf Prof. Weindl, worum es in der Forschungsgruppe des Preisträgers geht. Dort werden Epidermis- und Vollhautmodelle zur Erforschung und Behandlung von Kontaktallergien entwickelt, unter denen bis zu 20 % der Bevölkerung leiden. Dabei leisten Humanmodelle bessere Dienste als Versuchstiere; die Ergebnisse sind genauer und kein Tier muss für sie leiden. Dies gilt für die Erforschung ebenso wie für die Überprüfung der Wirkungen an Menschen, denn die Wirksamkeit am Menschen ist in Tierversuchen oft nicht nachweisbar. An der FU werden Modelle der Schleimhäute und angrenzenden Haut entwickelt, die für die Forschung besser geeignet sind als die Verwendung von Meerschweinchen. Nicht alle, aber viele Tierversuche seien so ersetzbar.

Laudatio Frau Prof. Dr. Monika Schäfer-Korting

Laudatio Frau Prof. Dr. Monika Schäfer-Korting

Von „einem guten Tag für die Forschung, einem guten Tag für die Tiere“ sprach der Senator Thomas Heilmann. Dass Berlin als Hauptstadt der Tierversuche bezeichnet werde, habe auch sein Gutes, hier werden Tierversuche konzentriert und hier werde nach Alternativen gesucht, wie sie der noch junge Preisträger Prof. Weindl erfolgreich erforscht.

Der andere Blick oder Warum es zu einem Forschungspreis im Tierinteresse kommt

Die Ansprache Brigitte Jenners, die Prof. Weindl den Zusatzpreis des Bündnisses Tierschutzpolitik Berlin verlieh, eröffnete dem Auditorium neue Perspektiven und hätte einem aufmerksamen, aber unbedarften Zuhörer zum ersten Mal an diesem Tag überhaupt die Frage beantwortet, worum es bei dieser Veranstaltung eigentlich ging. Sie erklärte als Ziel des Bündnisses für Tierschutzpolitik, dem der Tierschutzverein für Berlin und Umgebung Corp. e.V. und die Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg e.V. angehören, Tierversuche abzuschaffen und zu ersetzen – ein Ziel, das ihrer Einschätzung nach erst erreichbar sei, wenn Tierversuche tatsächlich ersetzbar seien.

Laudatio Brigitte Jenner, Sprecherin des Bündnis Tierschutzpolitik Berlin

Laudatio Brigitte Jenner, Sprecherin des Bündnis Tierschutzpolitik Berlin

Sie berichtete, wie sie vor 25 Jahren auf einer Tagung von einem Tierversuch hörte, der für die Tiere extrem schmerzhaft war, damals aber als unverzichtbar galt, so dass pro Jahr hunderttausende von Mäusen – die sogenannten Aszitesmäuse – litten und starben, bis eine Forscherin einen besseren Ersatz fand, der ohne ein Tier auskam, aber lange brauchte, bis er von der Forschung als Alternative zum Tierversuch anerkannt wurde. Heute sind solche Versuche an Mäusen nirgends mehr genehmigungsfähig. Frau Jenners Fazit: Wenn genug Geld da ist, genug Druck auf Forschung und Politik gemacht wird, dann ist alles möglich. Hinzuzufügen wäre: Und wenn Forscher da sind, die klug und engagiert genug sind, sich der Suche nach diesen tierleidfreien Alternativen zu widmen (wie im Fall der Aszitesmäuse) – die Anzahl der ausgelobten Forschungspreise könnte diese Bereitwilligkeit sicher noch heben. Darum ist die Vergabe des Zusatzpreises des Bündnisses Tierschutzpolitik Berlin eines seiner ersten Projekte auf dem Weg zu einer tierversuchsfreien Forschung. Bedingung der Vergabe ist die Ausschließlichkeit des replace-Prinzips: Tierversuche sollen ersetzt, nicht nur verfeinert oder reduziert werden. Gerade im Hinblick auf den Anstieg der Versuchstierzahlen wie beispielsweise am MDC sei es wichtig, so Frau Jenner abschließend, Forschung auszuzeichnen, die durch ihre innovativen Ergebnisse jährlich bis zu 8000 Mäusen und 3500 Meerschweinchen das Leben schenkt.

Gratulation von Ines Krüger und Brigitte Jenner

Gratulation von Ines Krüger und Brigitte Jenner

Einblick in die Forschung: Die Preisträger berichten

Nun präsentierte der Preisträger, Prof. Dr. Günther Weindl, seine Forschung über die Entwicklung menschlicher Hautmodelle und in vitro generierte Langerhans-Zellen und ihre Bedeutung in der medizinischen Forschung. Für die Erfassung des allergischen Potentials einer Substanz, die Kontaktallergien auslöst, wird üblicherweise der Lymphknotentest an Meerschweinchen oder der Mausohrenschwelltest verwendet, die beide sehr schmerzhaft sind und große Anzahlen von Versuchstieren erfordern. Prof. Weindls Arbeitsergebnisse sind auch von Interesse bei der Erforschung von Krankheiten wie Neurodermitis oder Schuppenflechte, an denen gleichermaßen Langerhans-Zellen beteiligt sind und für die derzeit jährlich 1,16 Millionen Mäuse als Versuchstiere eingesetzt werden. Auch in der Grundlagenforschung und zur Bestimmung des sensibilisierenden Potentials von Chemikalien würden Tierversuche mit diesen Modellen ersetzbar. Anschließend beschrieb Prof. Weindl in einer faszinierenden Präsentation, wie es gelang, Langerhans-Zellen zu isolieren und in 3D-Hautmodelle zu integrieren – wobei deutlich wurde, wie innovativ und zukunftsweisend diese Forschungsrichtung sein kann und welch guter Lehrender Prof. Weindl ist.

Präsentation von Prof. Weindl

Präsentation von Prof. Weindl

Nach ihm berichtete Prof. Dr. Stefan Hippenstiel von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité in Vertretung des vormaligen Preisträgers, Dr. Andreas Hocke, über die Entwicklung humaner Lungeninfektionsmodelle. Angesichts dessen, dass Lungenentzündung die dritthäufigste Todesursache weltweit sei (und zu 11 % in Deutschland), an der jährlich Millionen von Kindern sterben, sei ihre Erforschung eine dringende Aufgabe. Bessere bildgebende Modelle und Techniken, die Prof. Hippenstiel eindrucksvoll und verständlich beschrieb, helfen dabei, die Zahl der verwendeten Tiere zu reduzieren. Weil es in der Forschung Dr. Hockes nicht ausschließlich darum geht, Tierversuche zu ersetzen, sondern auch zu reduzieren, wurde ihm, anders als Prof. Weindl, nur der Forschungspreis des Landes Berlin, nicht aber der Zusatzpreis des Tierschutzbündnisses verliehen, das ausschließlich replacement, nicht aber bloßes reducement und refinement fördern will.

Erstaunlich: Contergan als Beispiel für die Unverzichtbarkeit von Tierversuchen!

Als letzter Redner sprach Prof. Dr. Gilbert Schönfelder, Leiter der Abteilung Experimentelle Toxikologie und der Zentralstelle zur Bewertung und Erfassung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Inhaber einer neuen Professur für Alternativmethoden zum Tierversuch in Berlin, auf die er im Dezember 2012 von der Charité und dem Bundesinstitut für Risikobewertung gemeinsam berufen wurde. Erklärtes Ziel der ZEBET ist es, „den Einsatz von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken auf das unerlässliche Maß zu beschränken“ – womit gleichzeitig auch ein Tenor der Ansprache Prof. Schönfelders zum Ausdruck kommt, der von der Unerlässlichkeit von Tierversuchen grundsätzlich überzeugt ist. Es sei, so Prof. Schönfelder, nicht zu erwarten, dass Tierversuche in den nächsten fünf bis zehn Jahren ersetzt werden könnten, dennoch sei das Bestreben, sie zu reduzieren, Teil einer Bewegung, der auch seine Berufung als Leiter der ZEBET angehöre; zudem wies er darauf hin, dass zur Zeit die wenigsten Versuche in der pharmazeutischen Prüfung oder der Toxikologie und die weitaus meisten in der Grundlagenforschung vorgenommen würden.

Obwohl er betonte, dass Tierversuche nur dann zum Einsatz kommen dürften, wenn es keine Alternative dazu gebe und das Leiden der Tiere das ethisch vertretbare Maß nicht überschreite, stellte er fest, dass Tierversuche allgemein meist sehr schwer zu ersetzen und darum unverzichtbar seien. Wie gefährlich die Unterlassung von Tierversuchen sei, habe Contergan gezeigt – hier habe man auf ausreichende Tests an Tieren verzichtet, andernfalls hätte die Gefährlichkeit erkannt werden können. Dennoch verschließt sich auch Prof. Schönfelder der Problematik von Tierversuchen nicht grundsätzlich: „Wir wissen sehr wenig über die Schmerzen von Tieren“, bekannte er. Schmerzmittel seien zwar an Tieren getestet, jedoch für Menschen gedacht. Ein Schmerzmittel für Tiere hingegen würde einen Versuch nur stören. Wie viele Semester Philosophie und Logik braucht es, um die Absurdität dieser Aussage zu erkennen? Ich dächte keines!

Ähnlich verwundert war ich über Prof. Schönfelders Darstellung der Wirkungen von Contergan. Wie viele andere Wirkstoffe, die im Tier vollkommen anders als im Menschen wirken, ist Contergan eins der bekanntesten und eindrucksvollsten Beispiele für die geringe Aussagekraft von Tierversuchen. Hier zu sagen, man hätte eben einfach mehr testen sollen (also vermutlich an allen, vor allem den menschenähnlichsten Tieren), um den tragischen Ausgang zu vermeiden, wie Prof. Schönfelder es tat, klang in meinen Ohren schon fast zynisch.

Das „ethisch vertretbare Maß“ – praktischerweise ohne bekannte Maßeinheiten

Noch interessanter fand ich seine Verwendung des „ethisch vertretbaren Maßes“ gleichsam wie die eines festgeschriebenen Wertes, der nicht hinterfragt werden muss (und auch nicht wurde, obwohl dieser Begriff im Lauf des Vormittags öfter fiel). Doch welches ist dieses Maß? Woher wird es gewonnen? Wer legt es fest, und wer kontrolliert seine Einhaltung? Fragen, die nicht beantwortet, ja nicht einmal gestellt wurden. Angesichts dessen, dass dieses „vertretbare ethische Maß“ genau die Instanz ist, die entscheidet, ob ein Versuch ethisch zu rechtfertigen und damit auch durchführbar ist, erscheint mir das Fehlen dieser Frage zumindest der Logik nach gesehen verwunderlich – in der Alltagserfahrung manche_r Forscher_innen könnte es durchaus nützlich sein, wenn sich dieses Maß als Gummiband erweist, das sie je nach Tagesplan und Experiment beliebig dehnen können. Oder gilt hier Honni soit qui mal y pense?

Auffällig auch die Widersprüchlichkeit zwischen der Beteuerung des Verbandes der forschenden Pharmaunternehmen in der ausliegenden Hochglanzbroschüre, dass Tierversuche schon allein deshalb möglichst wenig eingesetzt würden, weil sie sehr teuer seien, und dem bekannten Wissen darüber, wie wenig ein Tier in der Tierversuchsindustrie wert ist – wenn Versuchstiere so teuer wären, warum lässt man sie dann im MDC versehentlich verhungern? Diese Widersprüchlichkeit wurde noch deutlicher in einem Gespräch am Rande mit Prof. Dr. Hippenstiel von der Charité, dem Vertreter des vormaligen Preisträgers, der sagte, dass Alternativen zu Tierversuchen meistens teurer seien als Tierversuche, weil diese Alternativen in den meisten Fällen mehr Technik und teure Apparate erforderten, Tiere hingegen wenig kosteten – und man sich umso eher leisten könne, auf Tierversuche in der Forschung zu verzichten, je weiter nach oben man in der universitären Landschaft gekommen sei. Mithin erscheint die Beteuerung, dass die Pharmaindustrie (die ja nicht gerade zu den ärmeren Industriezweigen Deutschlands und Europas gehört) schon aus Kostengründen lieber auf Tierversuche verzichtet und Alternativen verwendet, argumentativ wie eine Placebopille, vielleicht nicht einmal das Hochglanzpapier wert, auf der sie gedruckt ist.

Auf die Frage, was ihn antreibt, Alternativen zum Tierversuch zu finden, und wie sich dies bezüglich der auch von ihm jahrelang betriebenen Routine der Tierversuche verhält, wusste Prof. Hippenstiel nur die Antwort, dass es natürlich sein Bestreben sei, Leiden zu mindern. In erster Linie das des Patienten, aber auch das der Tiere will er so gering wie möglich halten. Für ein einfaches Modell ergäben in vitro erzeugte Humanmodelle oft sogar bessere, klarere und jedenfalls übertragbarere Ergebnisse als Tierversuche; für das Verständnis von komplexen Strukturen wie beispielsweise dem Zusammenwirken verschiedener Organe gebe es keinen Ersatz für den Tierversuch. Auf die Frage, ob sich letzteres nicht vor allem in der Grundlagenforschung abspiele, die mit dem konkreten Leiden eines konkreten Patienten wenig zu tun habe, und daher ethisch anders zu bewerten sei, und vor allem unsere abschließende Frage, wie er zu der grundsätzlichen Rechtfertigung von Tierversuchen an sich stehe, also dem von ihm und anderen behaupteten Recht, Versuche an Tieren vorzunehmen, erhielten wir keine tatsächliche Antwort mehr von Prof. Hippenstiel, so weit hergeholt erschien ihm wohl vor allem die letzte der beiden Fragen.

Fragen ohne Antwort und die Rolle der Tierschützer_innen

Die beschriebene Ambivalenz zog sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung: fast alle der Anwesenden – außer dem Bündnis Tierschutzpolitik und uns – stellten Tierversuche grundsätzlich nicht in Frage, viele führten selbst welche durch oder tun es immer noch. Dennoch gibt es einen von allen beschworenen Konsens darüber, dass es erstrebenswert ist, das Leiden der Versuchstiere und die Zahl der Tierversuche überhaupt möglichst zu vermindern. Zwar wird auch in dem Druckwerk der forschenden Pharmaunternehmen ein ungenannter Forscher zitiert, der von seinem Unbehagen dabei spricht, Tiere bei Versuchen Schmerzen zuzufügen, doch die grundsätzliche Berechtigung dieses Tuns wird nirgends in Frage gestellt, und die Bestrebungen, dieses Leiden zu vermindern, scheinen kein Resultat einer Überlegung auf Seiten der forschenden Pharmaunternehmen selbst zu sein, vielmehr war auffallend, dass in den verschiedenen Ansprachen immer wieder die Rede davon war, dass „öffentlicher Druck“ der Hauptmotor dieses Bestrebens sei – wären die Türen der Tierversuchslabore immer noch so hermetisch geschlossen, wie es bis in die Mitte der 80er Jahre der Fall war, als kaum ein_e Nichtmediziner_in von Tierversuchen wusste, hätten die Forscher_innen auch ohne die Tierschützer_innen als Mahner_innen und Whistleblower_innen nach Alternativen gesucht? Oder hätten sie immer weiter geforscht, ohne die Schmerzen der Tiere in Betracht zu ziehen, ohne die Zahl der Toten zu zählen? Ich wüsste es nicht zu sagen.

Es erscheint ein merkwürdig unwissenschaftliches Vorgehen, ebenso absurd wie die Feststellung, dass man Schmerzmittel für Menschen an Tieren testet, aber zugibt, über das Schmerzempfinden von Tieren nichts zu wissen, wenn man, so wie von all den naturwissenschaftlich gebildeten Redner_innen und dem Senator zwar betont, die Vermeidung oder Verminderung von Tierleid zwar als Ziel nennt, dabei jedoch niemals die Gründe für dieses Bestreben nach Leidverringerung oder –vermeidung nennt oder definiert, sondern das Ziel einfach als gegeben voraussetzt, ohne je die ethische Dimension von Tierversuchen als solche zu thematisieren. Es erscheint fast, als vermeide man dieses heiße Eisen, so als ob die Frage nach der Rechtmäßigkeit von Tierversuchen durch Menschen einer Büchse der Pandora gleiche, die, einmal geöffnet, bedrohliche Folgen unerahnbaren Ausmaßes nach sich ziehen könne, so dass man sich vorsichtshalber dieser Frage erst gar nicht stellt, sich unter ihr wegduckt und so tut, als erkenne man weder ihre Brisanz noch gar ihre Existenz.

Aber wenn das Vermindern und Vermeiden von Tierleid allgemein erstrebenswert ist, warum, wann und unter welchen Umständen kann es dann überhaupt erlaubt und gerechtfertigt sein, Tieren Schmerz zuzufügen? Die Frage wird in Berlin regelmäßig entscheidend vom Gastgeber des Tages beantwortet, dem LAGeSo, nachdem die Forscher_innen dort ihre Anträge auf Genehmigung der Durchführung von Tierversuchen eingereicht und dabei zunächst für sich entschieden haben, dass der beantragte Tierversuch ethisch vertretbar ist. Zusätzlich gibt es eine ehrenamtlich agierende Tierversuchskommission, die Empfehlungen für die Zulassung oder Ablehnung aussprechen darf, wobei die Empfehlung einer Ablehnung begründet sein muss und für das LAGeSo keine bindende Entscheidung darstellt. Zahlen darüber, wie viele Anträge genehmigt wurden, teilt das LAGeSo mit; Zahlen über eventuelle abgelehnte Anträge, falls vorhanden, liegen nicht vor.

Eine genaue Definition dessen, was „ethisch vertretbar“ ist, von wem und auf welcher Grundlage diese ethische Vertretbarkeit festgelegt wird, findet sich in keiner der entsprechenden Richtlinien. Eine Entscheidungsfindung, die nicht nur von eben der Forschungseinrichtung, die den Tierversuch durchführen will, und der Behörde, die über die Genehmigungsfähigkeit zu befinden hat, sondern auch von Tierrechtler_innen und Philosoph_innen, die das grundsätzliche Recht des Tiers auf Leben und Unversehrtheit vertreten könnten, scheint dabei dem LAGeSo wie den Forscher_innen verzichtbar. Die fällige Wertediskussion wird nicht geführt. Man handelt scheinbar „aus dem Bauch heraus“, will Menschen helfen oder Grundlagenforschung betreiben, wozu die Praxis der Tierversuche seit der frühen Neuzeit, als der Mensch allein sich Vernunft und Gefühl zu- und den Tieren absprach, unwidersprochen gehörte. Descartes langer Schatten liegt über den Käfigen der Versuchstiere in den Laboren und lässt kein Fünklein des Verstandes oder des Mitgefühls hinein, die der Mensch seit Descartes ebenso praktisch wie grausam für sich allein reklamiert.

Die vormoderne Weltsicht der Naturwissenschaftler – und die Aufgabe der Tierrechtler_innen

Versuche an einem Wesen, dem im Gegensatz zu uns weder Verstand noch Gefühl zugesprochen werden, bedürfen in dieser vormodernen Weltsicht, die die Naturwissenschaft anscheinend immer noch beherrscht, per se keiner Rechtfertigung. Da gibt es kein Umdenken, auch wenn gerade Tierversuche immer deutlicher zeigen, dass Tiere sehr wohl über beides verfügen, dass sie sich freuen und trauern, vorplanen und an Vergangenes denken, Werkzeuge benutzen und lachen können, lieben und hassen und sich rächen wollen, genau wie wir. Aber für die Tierexperimentator_innen scheinen diese in der Tat großartigen Ergebnisse Tierversuche nur erst recht zu rechtfertigen, weil sie die erwartbaren Ergebnisse noch besser machen, nicht sie jedoch vielmehr in Frage zu stellen.

Tierrechtler_innen (und Philosoph_innen), die die Rechte der Tiere vertreten könnten, sind in dieser Dramaturgie nur für die Rolle des öffentlichen Drucks vorgesehen, der mit seiner Kritik an Tierversuchen die Forschung zur Tierversuchsalternativen antreibt und der tierversuchsbetreibenden Forschung ein Korrektiv ist. Das scheint nicht viel. Aber dass es Veranstaltungen wie diesen Preis gibt, zeigt: Frau Jenner und ihre Mitstreiter_innen haben einiges erreicht. Der Verband der forschenden Pharmaunternehmen lässt es sich etwas kosten, um nun Alternativen zu Tierversuchen zu finden. Wir müssen also der Forschung weiter Druck machen: Damit die Tiere es ihr wert sind.

Eine kleine Auswahl von Links zum Thema: